Allgemein, Unterricht

Die Kultusministerien und die Pandemie – Protokoll des Versagens

Seit den ersten Schulschließungen im März ist viel Zeit vergangen – aber was ist seither passiert? Wie haben Bund, Länder und Kultusministerien auf die Pandemie reagiert? Und warum nenne ich das bewusst ein „Versagen“, über das sich Lehrkräfte schon seit langem ärgern? Im Folgenden versuche ich, exemplarisch darauf zu antworten. Eine Warnung vorab: Dieser Text wird lang (!) und kann Spuren von Sarkasmus und Zynismus enthalten.

Ich will jedoch nicht zu weit zurückgreifen, daher beschränke ich mich größtenteils auf die letzten Wochen und Monate. Man könnte noch viel weiter ausholen und unzählige weitere Beispiele bringen, doch das würde den Rahmen endgültig sprengen.

Zur Info: Als Grundlage habe ich die Begriffe „Homeschooling“, „Fernlernen“ und „Hybridunterricht“ bereits hier kurz erklärt.

Schule ist nicht gleich Schule

Wichtig für die Diskussion um Maßnahmen im Schulbereich ist, dass man sich darüber im Klaren sein sollte, wie vielfältig das Schulsystem ist. Schule heißt eben nicht automatisch „kleine Kinder“. Die weiterführenden Schulen haben mehr Schüler*innen, die man getrost alleine lassen kann, als sie wirklich Kinder haben. Schließlich kann man davon ausgesehen, dass z.B. 14-jährige (also Achtklässler) durchaus alleine zurechtkommen können.

Das gilt erst recht für den Bereich der Beruflichen Schulen, in dem ich selbst arbeite. Das sind nicht nur reine Berufsschulen, sondern unter anderem auch Berufsfachschulen, Berufskollegs und Berufliche Gymnasien. Alle diese Schulformen haben gemeinsam, dass die Schüler*innen bereits eine weiterführende Schule besucht hatten, also längst Jugendliche bzw. auch junge Erwachsene sind. Es gibt also einen sehr großen Bereich von Schule, bei dem die Betroffenen in Bezug auf eine Pandemie eher als Erwachsene denn als Kinder gelten sollten.

Too little, too late

Wenn ich mir überlege, dass sechs Monate Zeit waren […], dann muss ich sagen: Fenster zu öffnen und Masken auf, das ist einfach ein bisschen zu wenig.

Lehrer-Kollege Bob Blume im ZDF-Interview.

Natürlich ist für eine Institution wie die Kultusministerkonferenz, für die auch der Lehrerbedarf immer wieder eine Überraschung darstellt, der abrupte Wechsel von Sommer auf Herbst und, Gott behüte, dann auch auf Winter, wahrscheinlich ein von keinem Menschen vorhersehbares Ereignis gewesen.

… und hier als Netzlehrer in seinem Blog.

Worüber beschwere ich mich eigentlich, mag man fragen? Es gibt doch immerhin Maßnahmen in Schulen: neue Finanzmittel für nötige Anschaffungen im November angekündigt – aber erst acht Monate nach der ersten Schulschließung im März. FFP2-Masken für Lehrkräfte versprochen – nachdem Städte wie Mannheim schon seit etlichen Wochen stabile Inzidenzen über 200 haben; und wann die überhaupt ankommen, ist auch noch unklar.

Immerhin: Maskenpflicht gilt mittlerweile an fast allen Schulen. Doch das war nicht von Anfang an so.

Überhaupt: Die Maskenpflicht, die gerade an einer Beruflichen Schule wichtig ist, da man mit jungen Erwachsenen zu tun hat, wurde nur zögerlich eingeführt. Zu Beginn des Schuljahres konnten wir nur darauf hoffen, dass möglichst viele aus Solidarität mitmachen – was in meinem Fall zum Glück funktionierte, da es nicht lange dauerte, bis die ersten Infektionsfälle in der Schule auftauchten.

Aber ich will mich nicht beschweren: besser spät als nie, muss man mittlerweile sagen. Daher widmen wir uns zunächst den argumentativen Fehlleistungen.

Die Mär von der „Bildungsgerechtigkeit“

Nun sollte man ja meinen, dass beispielsweise die Sommerferien genug Zeit für die verantwortlichen Stellen boten, um Pläne und „Konzepte“ (wie es gern heißt) zu erarbeiten. Schließlich war absehbar, dass in der kälteren Jahreszeit etwas geschehen muss. Was ist aber seitdem passiert? Nun ja, nichts. Die Schulen haben keine neuen Informationen oder Anweisungen bekommen. Stattdessen wird mantraartig wiederholt, wie wichtig „Präsenzunterricht“ sei, allein schon wegen der „Bildungsgerechtigkeit“.

Bildungsgerechtigkeit tritt auf der Stelle

Soso, Bildungsgerechtigkeit also. Komisch, dass das in den letzten Jahrzehnten irgendwie niemand ernstzunehmen schien. Dass Deutschland alles andere als bildungsgerecht ist, wissen wir spätestens seit den PISA-Studien, die regelmäßig belegen, dass wir hier eigentlich noch sehr viel Nachholbedarf hätten. Es kann also nicht allen Ernstes um Bildungsgerechtigkeit gehen, wenn ausnahmsweise für begrenzte Zeiträume der Schulbetrieb anders ablaufen soll. Wie das ablaufen soll, ist dann meist nicht einmal Teil der Debatte – die heilige Bildungsgerechtigkeit scheint ja sowieso ein Totschlagargument zu sein, das jede weitere vertiefte Diskussion im Keim ersticken soll. Das funktioniert aber eben nicht. Selbst die FAZ hat das erkannt und wundert sich:

Auf der ganzen Welt ringen Regierungen mit den Beeinträchtigungen der Schulen durch die Pandemie und versuchen, den nötigen Schutz mit so viel Unterrichtsnormalität wie möglich zu verbinden. Doch auf die Idee, unter Berufung auf einen Rechtsanspruch auf Bildung vorhandene Schutzmöglichkeiten nicht zu nutzen, scheint sonst niemand zu kommen.

Von wegen „sicher“ vor Corona

Die wohl größte Lüge Falschinformation, die von Kultusministerien sowie anderen neunmalklugen Kommentatoren immer wieder mal verbreitet wurde, ist die der angeblichen „Sicherheit“ von Schulen. Kinder seien ja nicht so ansteckend wie Erwachsene, und überhaupt gäbe es keine Belege für Infektionen innerhalb von Schulen.

Eine ganze Reihe aktueller Untersuchungen stützt die These, dass auch Kinder infektiös sein können – Jugendliche sogar genau so stark wie Erwachsene.

MDR: „Wie ansteckend sind Kinder und Jugendliche wirklich?“ (21.11.2020)

Über die Ansteckungsgefahr von Kindern und Jugendlichen wird noch im Detail geforscht, aber klar ist mittlerweile, dass sie sehr wohl eine Rolle spielen. Außerdem sollte man den Kultusministerien und Co. vielleicht einmal erklären, dass nicht nur Kleinkinder in Schulen gehen, sondern auch (junge) Erwachsene, wie bereits eingangs erwähnt. Selbst wenn Kinder also tatsächlich weniger infektiös wären, wäre das ein schwacher Trost.

Speziell beim Thema Schulen wird aber gerne auf eine Studie verwiesen, die belegen soll, dass Schulen „keine Pandemietreiber“ seien. Das Problem dabei: diese Studie stammt aus dem Sommer. Wie im verlinkten Artikel zu lesen ist, handelt es sich um „die Werte der letzten zwei Ferienwochen und die der ersten drei Schulwochen“. Ach, sieh an, am Ende der Sommer(!)ferien waren Schulen also keine Treiber der Pandemie? Wow, wer hätte das gedacht! Gott sei Dank wurde damals eine Studie dazu durchgeführt, die man jetzt im Winter immer noch als Pseudo-Argument bringen kann. Natürlich war aber auch den Studienautoren klar, dass das nicht so aussagekräftig sein wird:

Die Autoren räumen ein, dass sich die Studienergebnisse nicht auf […] den kommenden Winter übertragen lassen. […] Auch ist es schwieriger, in der kalten Jahreszeit die Aerosole in geschlossenen Räumen – die Hauptverdächtigen beim Infektionsgeschehen – zu bekämpfen, da das Lüften bei Temperaturen im einstelligen Bereich eine Herausforderung darstellt. Dies war bei warmen Temperaturen im August und September noch kein Problem.

Die Studienautoren erklären es extra nochmal für die Dummen Politik.

Aber ist Politik rational und beachtet auch die „… aber“-Ergebnisse von Studien? Tja, spätestens jetzt kennen wir die Antwort.

Kultusministerien vs. Fachleute

Eigentlich gibt es Regeln, die das zuweilen irrationale Verhalten der Politik in Schach halten sollen. Im Fall der Pandemie ist die übergeordnete Behörde das Robert Koch-Institut, das Handlungsanweisungen ausgibt. Allerdings scheint das die Kultusministerien nicht sonderlich zu interessieren.

Bemerkenswert zunächst: Oberste Priorität hat der Präsenzunterricht – nicht der Gesundheitsschutz von Schülern und Lehrern.

News4teachers: „KMK nimmt Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts für Schulen zur Kenntnis – beachtet sie aber nicht“ (28.10.2020)

Zum Beispiel soll ab einem Inzidenzwert von 50 bereits zusätzlich zur Maskenpflicht der Abstand gewährleistet werden. Das ist bis heute noch nicht passiert! Schulen wie unsere sind darauf vorbereitet, jederzeit in den Hybridunterricht zu wechseln – oder bei Bedarf komplett auf Fernunterricht umzusteigen. Dennoch ist außer „Maske auf“ und „Lüften“ bisher nichts von Seiten der Politik gekommen. Außer natürlich das Beharren auf „Regelbetrieb!“ und „Präsenzunterricht!“.

Das kann sogar so weit gehen, dass ein Kultusministerium gegen Schulen vorgehen will, die die Empfehlungen des RKI befolgen wollen. Klingt verrückt? Ist aber so passiert, nämlich in Solingen. Dort sollten Schichtbetrieb und Hybridunterricht ermöglicht werden. Das Ergebnis:

Solingen folgt mit der Maßnahme den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts. Der Landesregierung aber passt das nicht. Das Schulministerium macht offenbar Druck – und kündigt an, Schritte gegen die Stadt zu prüfen.

Auch Christian Drosten hat bereits die Rolle der Schulen angesprochen. Am 24. November sagte er dazu in seinem Podcast:

Wenn wir nichts machen dann verbreitet sich das in den Schulen explosionsartig. Das ist inzwischen wissenschaftlich klar.

Klingt eindringlich? Nicht aber für unsere Kultusministerien. Die teilen stattdessen lieber Meldungen, die ihnen eher in den Kram passen, wie z.B. unser Dienstherr in Baden-Württemberg:

Das klingt angesichts der bisher beschriebenen Probleme merkwürdig? Allerdings! Kurios ist dabei auch, dass besagter Gesundheitsamt-Chef nicht gerade besonders aufgeklärt zu sein scheint. Der meinte nämlich auch, „für eine Übertragung durch Aerosole gebe es keine wissenschaftlichen Belege.“ Uff.

Es gibt aber immer irgendein Pseudo-Argument, an dem „Weiter so!“ festzuhalten. Beliebt ist mangelnde Infrastruktur, garniert mit Konzepten, die die Meinungsäußerer nicht zu verstehen scheinen, wie in diesem Beispiel:

Wie oben bereits beschrieben, ist es mit der ach so wichtigen „Chancengleichheit“ eh nicht weit her. Die Vorstellung, Hybridunterricht oder Fernlernen funktioniere nur mit einem Laptop, ist aber besonders unkreativ. Wie haben all die Menschen bis vor 20 Jahren nur zu Hause lernen können, als sie noch keine Laptops hatten?

Passende, bissige Kommentare zu der Thematik gibt es natürlich auch, wie z.B. in diesem lesenswerten Thread:

Desinformation und fehlende Kommunikation

Abgesehen von chaotischen Regelungen und wenig durchdachten Pseudo-Argumenten haben Schulen und Lehrkräfte auch mit Kultusministerien zu kämpfen, die den Kopf in den Sand zu stecken scheinen. So haben wir uns in Baden-Württemberg mittlerweile daran gewöhnt, frühestens über die Medien von neuen Bestimmungen zu erfahren.

Drama um die Weihnachtsferien

Schrödingers Schulinfektionen.

Ein Beispiel gefällig? Am 24. November gab es Meldungen wie von n-tv: „In einer Telefonschalte zwischen den Ländern und Kanzleramtsminister Helge Braun einigen sich alle auf einen Ferienbeginn bereits am 16. Dezember.“ Die Länder hatten sich dann aber auf den 19. Dezember als Ferienbeginn geeinigt. Und was war hier, in Baden-Württemberg? Nichts. Keine offizielle Aussage. Schüler*innen und Eltern fragten daraufhin, wann denn jetzt die Weihnachtsferien beginnen, und wir konnten nur antworten: „Ganz ehrlich? Das erfahren wir genau wie ihr aus der Presse.“ Das sagt ja eigentlich schon alles über die Priorisierung und Wertschätzung der Landesregierung bzw. des Kultusministeriums.

Tja, und so kam es dann auch. Plötzlich hieß es am 1. Dezember in den Medien (bleiben wir bei n-tv):

Bis zur siebten Klasse gilt zwar regulärer Präsenzunterricht an den Schulen vor Ort, allerdings wird die Präsenzpflicht ausgesetzt. Eltern können ihre Kinder also zuhause lassen, wenn sie das möchten. Schüler ab der achten Klasse sollen an dem Montag und Dienstag vor Heiligabend komplett im Fernunterricht unterrichtet werden […]. Einzelne Schulen können mit beweglichen Ferientagen von der Regel abweichen und doch früher die Ferien einläuten.
Bund und Länder hatten eigentlich vergangene Woche vereinbart, dass die Kinder dieses Jahr bereits am 19. Dezember in die Ferien entlassen werden sollen […]. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte selbst bereits vor der Absprache mit seinen Länderkollegen vorgezogene Weihnachtsferien angekündigt. Mit dem neuen Vorstoß widerspricht Baden-Württemberg nun der Vereinbarung von Bund und Ländern.

Präsenzunterricht, aber keine Präsenzpflicht. Fernunterricht, aber vielleicht auch Ferientage. Mit Aussagen dieser Art schlagen wir uns jetzt seit März (!) herum – Informationen, die die Schüler*innen im Zweifel schneller auf dem Smartphone in der Schule lesen, als wir es erfahren, weil die Medien der neue Dienstweg zu sein scheinen.

Unmut unter Lehrkräften

Fehlinformationen, mangelnde Handlungsfähigkeit und Kommunikation – aber eben nicht in allen Bereichen. Wir Lehrkräfte (und übrigens auch Schüler*innen und deren Eltern!) nehmen natürlich wahr, was während der Pandemie sonst noch alles passiert und möglich ist. Dass die heilige Wirtschaft – Gott schütze sie! – eine höhere Priorität genießt, gab wenigstens ehrlicherweise Markus Söder zu:

Das Prinzip muss sein: Unsere Kinder müssen betreut werden. […] Schule und Kita hat ja den Zweck auch, um die Wirtschaft laufen zu lassen.

Gerade die Betreuung scheint der eigentliche Grund für das Festhalten am heiligen Gral des Präsenzunterricht zu sein, wie auch Achim Vetter feststellt: „Denn um etwas anderes als Betreuung geht es ja dem System schon lange nicht mehr, sonst hätte man diese digitalen Strukturen, von denen immer alle in Sonntagsreden und Interviews mit der WELT faseln, seit März mal schaffen können.“ Er kommt später übrigens zu dem bedenklichen Schluss:

Ich bin scheiße-sauer auf die Bildungspolitik in meinem Bundesland und im kompletten Bundesgebiet angesichts des Infektionsgeschehens. Weil ich inzwischen den Eindruck habe, dass man uns bewusst gefährdet, um finanzielle Interessen zu befriedigen.

Immer wieder sind ähnliche Äußerungen zu finden, z.B. auch von News4teachers und dessen Herausgeber Andrej Priboschek. Dieser hat am 24. November in einem offenen Brief an die Ministerpräsidenten Stellung bezogen, den er mit folgenden Worten schließt:

Sie mokieren sich über Populisten wie Donald Trump, zu deren Tagesgeschäft das Verbreiten von Halbwahrheiten und Lügen auch über Corona gehört? Um’s mal deutlich zu sagen: Sie, sehr geehrte Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten, sind mit Ihrer Unehrlichkeit gegenüber den Familien, den Erziehern und Lehrern – mit der Sie Ihr Versagen in der Kita- und Schulpolitik verschleiern wollen – keinen Deut besser.

Die aktuelle Situation kostet viele Menschen im Land Kraft, keine Frage. Doch jede Beschwerde darüber, wie schlimm es sei, wenn die Schulen ganz oder teilweise schließen müssten, ist einseitig – denn auf der anderen Seite sind es wir Lehrkräfte, die diese Entscheidungen letzten Endes ausführen müssen.

Ein weiterer Thread über den Frust als Lehrkraft zur Zeit.

Eine ganze Generation von Lehrkräften – und übrigens auch Schüler*innen, darunter viele Wahlberechtigte, und deren Eltern, ihr lieben Politiker*innen – bekommt gerade deutlich vor Augen geführt, wie es um Wertschätzung und Anerkennung an deutschen Schulen steht. Die Gräben, die sich hier auftun, werden so schnell nicht zu schließen sein.

Man kann eigentlich nur noch mit einer Art Galgenhumor reagieren, so wie der eingangs zitierte Bob Blume in seinem Blog:

Ich sehe mich schon vor mir, wie ich in einigen Jahren – endlich wieder in Präsenz – auf einem großen Digitalgipfel in Dänemark, voller Emphase mit meinen Kolleginnen und Kollegen des Twitterlehrerzimmers im Duktus eines Kriegshelden davon erzähle, wie ich in völlig unproportionaler Mehrarbeit sogar neben der Stoß- manchmal eine Querlüftung vorgenommen habe.

Ein Gedanke zu „Die Kultusministerien und die Pandemie – Protokoll des Versagens“

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